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    06. Mai 2009

    Sprachförderung neu organisieren

    Rede von Renate Hendricks im Plenum am 6.5.2009 zum Antrag der SPD: Sprachförderung neu organisieren Zum Antrag...
    - Es gilt das gesprochene Wort -
    Anrede, dass Sprachkompetenz eine entscheidende Voraussetzung für den Bildungserfolg darstellt, ist allgemein anerkannt. Die daraus abgeleiteten besonderen Bemühungen um eine Alle erreichende Sprachförderung sind darum konsequent und uneingeschränkt zu begrüßen. Gleichwohl sind Sprachtests und Sprachförderungsmaßnahmen von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden. So werden in Bremen erst die Fünfjährigen getestet, in Niedersachsen setzt man bei der Sprachförderung auf ein Lernprogramm, Brandenburg legt den Vorrang auf die Qualifizierung der Erzieher zu Sprachfachkräften mit dem Ziel, möglichst schnell in jeder Kita ausgebildete Fachkräfte zu haben. Die Landesregierung NRW dagegen ist stolz, ich zitiere, “bundesweiter Vorreiter in der Sprachstandsfeststellung sei zu sein“. Seither werden uns die Zahlen übermittelt, wie viele Kinder diesen Test alljährlich durchlaufen haben. Damit erschöpfen sich die Positivnachrichten im Hinblick auf Sprachförderung. Das ist schon seltsam: Die Diagnostik soll anscheinend auch Therapie sein. Aber seit der Einführung der Sprachstandsfeststellung in NRW reißt die Kritik an diesem Verfahren bei den Erziehern, Trägern, Grundschulen und Eltern nicht ab. Hierzu will ich erst einmal Frau Prof. Fried, die ja den Test in NRW verantwortlich zeitigt, inhaltlich zitieren: Delfin 4, der verpflichtende Sprachtest für Vierjährige, sagt nichts über den Erfolg der anschließenden Sprachfördermaßnahmen aus. Er sagt auch nichts über die Sprachentwicklung von Kindern in der nichtdeutschen Muttersprache aus. Und er sagt nichts darüber aus, ob bei den Kindern eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt oder die Sprachentwicklung in der Muttersprache altersgerecht verlaufen ist. Delfin 4 ist nur ein Screening, das von den vierjährigen Kindern diejenigen ermitteln will, die
    • Entweder als Kinder mit Erstsprache Deutsch nicht altersgerechte Sprachfähigkeiten aufweisen
    • Oder als Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache nur über unzureichende Deutschkenntnisse verfügen.
    Vor diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, ob die 160.000 Kinder in NRW nicht auf eine andere Art und Weise auf den Sprachförderbedarf untersucht werden könnten und sollten. Erzieher und Erzieherinnen bestätigen, dass sie besser in der Lage sind, den Sprachförderbedarf von Kindern einzuschätzen, als dies mit Delfin 4 möglich ist. Damit werden immer wieder Kinder als sprachförderbedürftig ermittelt werden, die die Sprache perfekt beherrschen. Andere, die dringend Förderung bräuchten, werden nicht identifiziert. Deren Eltern wähnen sich dann in einer trügerischen Sicherheit. Mit der zweiten Stufe des Testverfahrens gelingt es ebenfalls nicht, die richtigen Kinder als sprachförderbedürftig zu identifizieren. Der Eindruck, der bei Einführung des Testverfahrens bestand, "übereilt, zu wenig durchdacht, nicht richtig evaluiert, nicht richtig implementiert", bleibt auch nach der Durchführung des dritten Testjahrgangs bestehen. So schrieb eine Erzieherin zu Delfin 4 im Internet: "Hier werden Fördergelder zum Fenster raus geworfen." Ähnliche Äußerungen können Sie landesweit auf entsprechenden Veranstaltungen und Gesprächen erhalten. Aber davon einmal ganz abgesehen: Gut getestet ist noch lange nicht gut gefördert. Wenn man einmal von dem Materialordner von Frau Prof. Fried absieht, gibt es kaum Hilfen, wie Kinder gefördert werden sollen. Dieser Ordner ist gut gemeint und prinzipiell durchaus brauchbar, aber ohne die entsprechende Fortbildung weitgehend wirkungslos, ein Alibi-Werkzeug. Solche Erfahrungen hat das Schulministerium mit ähnlichen Materialien schon in vielfältiger Weise gemacht. Nicht Material, sondern Menschen verändern die pädagogische Landschaft. Um die Erzieher zu erreichen, bedarf es nachdrücklicher konzeptioneller, organisatorischer Maßnahmen und Entwicklungsprogramme. Stattdessen verteilt die Landesregierung Geld und hofft, dass der Markt die fehlenden Konzepte schon bereitstellt. 340 € gibt es pro förderfähigem Kind pro Jahr. Welche Förderung das Kind damit erhält, ist unklar. Die Einrichtungen können das Geld z. B. für die Fortbildung ihrer Mitarbeiter ausgeben. Welche Vorstellungen hat die Landesregierung zu Inhalten und Zielen der Fortbildung? Es scheint, sie hat gar keine. Es gibt keine Hinweise oder Empfehlungen der Landesregierung. Jede Kita und jeder Träger entscheidet vor Ort über die Verwendung und die Qualifizierung. Und dass die betroffenen Kinder dann auch noch in den Genuss der Fortbildungsergebnisse kommen, darf gehofft werden, ist aber keineswegs selbstverständlich. Für Kinder, die unterjährig in die Kita aufgenommen werden und bei denen die Erzieher einen Sprachförderbedarf feststellen, sind nicht einmal mehr Fördergelder vorgesehen. Das Vorgehen ist formal, nicht kindorientiert. Es gilt das Prinzip: Wer nicht getestet ist, erhält kein Fördergeld. Die erzielten Ergebnisse entsprechen den mangelnden Maßnahmen. Kinder, die im Jahr 2008 in den Grundschulen angemeldet wurden und im kommenden Schuljahr zur Schule gehen werden, haben zu einem erstaunlichen Anteil noch Sprachdefizite. Dies ist im Schulministerium bereits thematisiert worden. Die Situation in NRW ist unübersichtlich. Viele Ansätze sind nicht konsequent genug an den wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet. Nicht selten wird einfach nur das, was man schon immer gemacht hat, einfach zusammengetragen. Fortbildung aus einem Guss wird nicht angeboten. Das übergeordnete Ziel fehlt und ist nicht definiert. Die Fortbildung wird nicht evaluiert. Es tummeln sich viele Fortbilder mit unterschiedlichen Ansätzen und Methoden, deren Wirksamkeit zum Teil durchaus fraglich ist. Eingangs erwähnte ich, dass Brandenburg einen anderen Weg geht. Dort erhalten zunächst 1.000 Erzieher eine Ausbildung zur Sprachfachkraft. Dies bedeutet eine nachhaltige Investition mit Langzeitwirkung und kommt dem System und damit allen Kindern zugute. In NRW gibt es dagegen die Philosophie der kindbezogenen Pauschalen, die den Trägern zufließen. Dies ist kein systematischer Ansatz. Dabei gibt es in unserem Land durchaus einen systematischen Ansatz, der freilich vor der vorigen Regierung initiiert wurde und daher von der derzeitigen schon aus Prinzip ignoriert wird: Im August 2009 endet nach fünfjähriger Laufzeit das Modellprogramm "FÖRMIG - Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund". Am Programm sind zehn Bundesländer beteiligt, darunter NRW mit etlichen Kommunen. Erste Ergebnisse werden im Juni in Hamburg vorgestellt. Ziel des Programms war es, Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Familien eine bessere sprachliche Förderung zu bieten, um ihre Erfolgschancen an deutschen Schulen zu erhöhen. Vier Schwerpunkte umfasst das Projekt. Der erste Schwerpunkt befasst sich mit Sprachbeobachtungsverfahren im Elementarbereich und Verfahren der Sprachstandsfeststellung vor und in der Grundschule sowie beim Übergang in die Sekundarstufe bis hin zum Übergang in den Beruf. Ich frage, welche Auswirkungen haben diese Ergebnisse aus den NRW Kommunen auf die Weiterentwicklung der Sprachförderung in NRW? Der zweite Schwerpunkt befasst sich mit Sprachförderung als Baustein von Ganztagsangeboten und mit der Optimierung einer gezielten Sprachförderung am Nachmittag. Im dritten Schwerpunkt werden Sprachförderprogramme in Deutsch, den Herkunfts- und Fremdsprachen betrachtet. Das innovative Potenzial des Projekts liegt in der Entwicklung eines Sprachfördergesamtkonzepts, welches die vier Schwerpunktbereiche Elementar-, Primar-, Sekundar- und Berufsbildungsbereich einschließt. So könnte ein Gesamtkonzept entstehen, wie es die Enquetekommission „Chancen für Kinder“ in ihrem Bericht gefordert hat und das wir als SPD in NRW ausdrücklich verwirklicht sehen wollen. Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung hat vor dem Hintergrund der vielfältigen offenen Fragen zur Sprachförderung 2008 eine wissenschaftliche Fundierung der derzeitigen Verfahren und Instrumente der Sprachdiagnostik und Sprachförderung in einem Forschungsprogramm veranlasst. Aus Sicht des Bundes muss geklärt werden, welche Rahmenbedingungen, Methoden und Vorgehensweisen über eine ausreichende Wirkung entscheiden. Gilt dies auch für NRW, Herr Minister? Ich komme zum Schluss: Bundesweit unstrittig ist, dass eine ausreichende sprachliche Kompetenz bei allen Kindern möglichst in der Kita erreicht werden sollte. Dies setzt voraus, dass man eine systematische Sprachförderung praktiziert, die sich am Stand der Wissenschaft orientiert. Dies sehen wir für NRW mit ihren wenig systematischen Maßnahmen nicht erfüllt. Die Forschung zeigt unter anderem, dass die Wirkung von Sprachförderung bedeutend intensiver und anhaltender ist, wenn es gelingt, die Eltern zu beteiligen. Wer Sprachförderung erfolgreich betreiben will, braucht die Unterstützung der Eltern. Das gilt für alle Familien, insbesondere aber auch für Familien mit Migrationshintergrund, die neben der Erziehung auch sprachliche und kulturelle Hürden zu nehmen haben. Das Beherrschen mehrerer Sprachen stellt zudem eine Ressource dar, die wir in Deutschland erkennen und nutzen sollten. Zu oft noch wird Zweisprachigkeit von Kindern nicht als Entwicklungspotential erkannt und gewürdigt, sondern als Sprachdefizit fehlinterpretiert. Hier hat der Integrationsbeauftragte Kufen in den vergangenen Jahren zu unserer Freude seine Positionen denen der SPD angenähert. Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen stellen Chancen dar - nicht nur für das jeweilige Kind, sondern auch für die Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Muttersprache muss zudem auch in der Schule kontinuierlich gefördert werden. Die Bedeutung des Beherrschens der Muttersprache für die Sprachkompetenz insgesamt ist weitgehend anerkannt. Daher muss insbesondere die Schule diese wichtige Aufgabe aufgreifen. Durch die Fixierung auf die frühe Sprachförderung darf die wesentliche Rolle der Schule dabei nicht vernachlässigt werden. Auch Schule muss hierfür die volle Verantwortung übernehmen und die erforderlichen Ressourcen erhalten.