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    19. Juni 2008

    Gesetz zur Abschaffung der Kopfnoten (Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes NRW)

    Rede zum Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

    Gesetz zur Abschaffung der Kopfnoten (Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes NRW)

    Meine sehr geehrten Damen und Herren!
    Sehr geehrter Herr Präsident!
    Liebe Zuschauer auf der Tribüne!

    Heute Morgen haben wir in diesem Plenum über das Chaos bei den Zentralprüfungen diskutiert. Heute Nachmittag diskutieren wir über die Kopfnoten. Der Stress für Lehrer und Lehrerinnen sowie für Schüler und Schülerinnen geht also weiter.
    Diesmal – bei den Kopfnoten – haben wir eine ganz neue Perspektive. Herr Ellinghaus, es ist erstaunlich, dass Sie heute gar nicht darauf eingegangen sind. Ich frage mich, wann Sie Ihre Rede geschrieben haben. Die aktuelle Situation hat sich nämlich deutlich geändert. Mit der evangelischen Kirche gibt es aufgrund eines Gutachtens – das noch bis Ende des Jahres aussteht – eine Vereinbarung, die es den Schulen in evangelischer Trägerschaft ermöglicht, weiterhin auf die Kopfnoten zu verzichten. Herr Ellinghaus, wo war in Ihrer Rede die Replik auf diese Entwicklung in Nordrhein-Westfalen? Das habe ich tatsächlich vermisst. Oder hinken Sie auch in diesem Fall wieder einmal der aktuellen Entwicklung hinterher?

    Für morgen ruft die Landesschülervertretung zu einer Großdemonstration gegen die Kopfnoten auf, nachdem sie in dieser Woche dem Vizepräsidenten des Landtags eine Liste mit 10.000 Unterschriften für die Abschaffung der Kopfnoten überreicht hatte.

    Derweil – Herr Ellinghaus, dafür sind Sie nun ein gutes Beispiel – bekunden die Regierungsfraktionen ihre Meinung, die Noten für das Arbeits- und Sozialverhalten in der aktuellen Form bestehen zu lassen. Von Einsicht keine Spur! Nicht der Protest, nicht die Abmachung mit der Kirche: Einsicht scheint bei Ihnen sozusagen nicht vorhanden zu sein.

    Ich weiß, Sie wollen den Evaluationsprozess abwarten. Das hat uns Frau Ministerin häufig genug gesagt. Ich prognostiziere Ihnen, dass dieser Evaluationsprozess jetzt deutlich an Drive gewinnen wird. Sie werden vom Evaluationsprozess überholt werden, weil Sie es nicht schaffen, vorher auf die mahnenden und richtigen Worte der Öffentlichkeit zu reagieren.

    So wie andere Gesetze, das Online-Gesetz, das Landespersonalratsgesetz, ist auch das Schulgesetz rechtlich nicht haltbar. Wie viel Murks, meine Damen und Herren von den Regierungsbänken, wollen Sie eigentlich in diesem Land noch machen? Wann wird das Regierungshandeln endlich mit der erforderlichen Professionalität ausgestattet sein? Wann kommen Sie endlich in der Wirklichkeit an? Und wie viel Zeit zum Üben wollen Sie eigentlich noch haben?

    Mit der Einführung von sechs Verhaltensnoten sind Sie über das Ziel hinausgeschossen. Sie haben die Demarkationslinie übertreten. Die Einführung von Kopfnoten hat in allen Bundesländern zu Protesten geführt, in keinem Bundesland jedoch zu so heftigen und so lang anhaltenden Protesten wie in Nordrhein-Westfalen. Und das liegt an unterschiedlichen Gründen.

    Erstens. Sie haben sechs Bewertungskategorien eingeführt. Das ist – das hat die evangelische Kirche sehr deutlich gemacht – mit einer ethisch vertretbaren und zu verantwortenden Pädagogik nicht vereinbar. Die Landeskirchen haben angemahnt, dass Schüler und Schülerinnen eine unterstützende und angemessene Rückmeldung erhalten müssen. Und darin stimmen wir übrigens mit den Landeskirchen überein. Zeugnisse sind nämlich keine Disziplinierungsmaßnahme, Herr Ellinghaus, sondern sie sind Rückmeldungen über Leistungen, die Schüler erbracht haben.

    Sie erteilen Kopfnoten im dualen System bei jungen Erwachsenen. Bei der letzten Lossprechung konnte ich erfahren, dass 30-jährige Menschen im dualen System Kopfnoten erhalten, wenn sie dagegen nicht protestieren. Das, meine Damen und Herren, sind junge Menschen, die so alt sind wie die jüngsten Abgeordneten in diesem Haus. Es käme doch niemand auf die Idee, unseren Abgeordneten in diesem Haus Kopfnoten zu erteilen. Oder irre ich mich da vielleicht?

    Diese jungen Menschen bekommen zwar in der Schule Kopfnoten, aber wenn sie dann in die Universität kommen, bekommen sie auch keine mehr. Warum nehmen Sie hier diese Ungleichbehandlung vor? Und das Zeugnis der Reife, das die Reife fürs Leben dokumentieren soll, wird dann auch noch mit Kopfnoten dekoriert.

    Zweitens. Kopfnoten auf dem Abschlusszeugnis gibt es in anderen Ländern nicht. Ministerialbeamte aus anderen Ländern haben nur ein verständnisloses Kopfschütteln für das übrig, was zurzeit in Nordrhein-Westfalen passiert. Selbst in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg versteht man nicht, warum man in Nordrhein-Westfalen so weit über das Ziel hinausgeschossen ist. Denn anders als in NRW weiß man in den übrigen Bundesländern, dass Zeugnisse Dokumente sind, die einen Menschen ein Leben lang begleiten. Momentaufnahmen eines pubertären Entwicklungsabschnitts gehören eben nicht auf ein Dokument mit lebenslanger Wirkung. Aber genau das machen Sie in diesem Land hier.

    Meine Damen und Herren, dabei sind wir in der Einschätzung, dass wir jungen Menschen Rückmeldungen für ihr Verhalten geben müssen, gar nicht auseinander. Das wollen wir auch. Aber es geht wieder einmal nicht um das Ob, sondern es geht um das Wie, wie Sie das durchführen. Lassen Sie mich an dieser Stelle das Bündnis für Erziehung ansprechen, das Gabriele Behler in Nordrhein-Westfalen lange vor Ihrer Zeit auf den Weg gebracht hat, das mit Partnern aus gesellschaftlichen Gruppen, Kirchen und Verbänden, Elternvertretungen gemeinsam in der Verantwortung für die junge Generation angelegt war und eine Sensibilisierung für die Entwicklung der jungen Menschen auch im Sozialverhalten dokumentieren sollte.

    Feedback-Meldungen, meine Damen und Herren, sind wichtig für die Entwicklung von Menschen, übrigens auch für die Entwicklung von Regierungen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass die Feedback-Meldungen von uns an Sie keinen Widerhall finden.

    Meine Damen und Herren, es ist ein Irrtum zu glauben, man könne über Kopfnoten junge Menschen erziehen. Erziehung bedeutet Vorbild, Beispiel, Lernanlässe und -gelegenheiten, Beziehungen und Empathie.

    Meine fünf Kinder haben sich auf jeden Fall nicht über Kopfnoten motivieren lassen, sondern über andere Formen von Ansprache. Ich kann Ihnen sagen: Auch ohne Kopfnoten ist aus allen meinen Kindern etwas geworden. Ich wüsste übrigens nicht, warum es der nachfolgenden Generation nicht auch so gehen sollte.

    Erziehung erfordert Zeit, Engagement und ein Klima der zugewandten und fördernden Pädagogik. Dazu gibt es geeignete Mittel. Die Kopfnoten gehören nicht dazu. Warum Schulen bewährte Verfahren nicht mehr anwenden dürfen, selbstständige Schulen ihre Rückmeldungsmodalitäten verändern und stattdessen auf ein Schablonenmuster setzen müssen, das bleibt in den Tiefen des Ministeriums verborgen.

    Die Beweggründe für die Kopfnoten scheinen einer Pädagogik von vorgestern entlehnt für eine Generation von morgen, mit Politikern von heute, deren Weitblick in der Tat nicht nur in der Schulpolitik nicht gerade den Erfordernissen der Zeit entspricht.

    Wie, Frau Ministerin Sommer, bewerten Sie die Abmachung mit den Kirchen? Wie geht es für die Schülerinnen und Schüler der öffentlichen Schulen weiter? Dürfen die Schüler mit dem Abschluss und Abgangszeugnis aus dem Jahre 2008 darauf hoffen, dass sie demnächst die Kopfnoten auf diesen Zeugnissen gelöscht bekommen? Darauf, Frau Ministerin Sommer, hätte ich gerne eine Antwort. Ansonsten bin ich ganz gespannt, wie Sie gleich zu der aktuellen Situation in Nordrhein-Westfalen ihre Einlassung an dieser Stelle vortragen. – Ich bedanke mich.