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    08. Februar 2008

    Neue KMK Empfehlung zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen - wie wird diese in NRW umgesetzt?

    LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
    14. Wahlperiode
    Drucksache 14/6374
    10.03.2008

    Antwort
    der Landesregierung
    auf die Kleine Anfrage 2255
    der Abgeordneten Renate Hendricks SPD
    Drucksache 14/6077

    Neue KMK Empfehlung zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen - wie wird diese in NRW umgesetzt?

    Wortlaut der Kleinen Anfrage 2255 vom 23. Januar 2008:

    Im Dezember 2007 wurde die neue KMK-Empfehlung "Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen" veröffentlicht. Die Empfehlung aus dem Jahr 2003 wurde aufgrund des Gutachtens von Frau Prof. Langenfeld, Institut für öffentliches Recht der Universität Göttingen, überarbeitet, da in dem Gutachten aufgezeigt wurde, dass die bestehenden schulrechtlichen Regelungen für Legastheniker verfassungswidrig sind.

    Die Neufassung hat erhebliche Folgen für Schülerinnen und Schüler, die von einer Legasthenie (Lese-/Rechtschreibstörung) oder von einer Dyskalkulie (Rechenstörung) betroffen sind, da sie massiv in ihren Rechten, abgeleitet aus dem Grundgesetz, beschnitten werden. Wird dieser Empfehlung auf Länderebene gefolgt, bedeutet das für gut begabte Schüler, dass ihnen der Zugang zum Abitur verwehrt wird. Es ist unverständlich, dass die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Legasthenie und Dyskalkulie ignoriert, der Schutz der betroffenen Kinder sowie ihrer Familie nicht vorrangig berücksichtigt wurde.

    Gestörte Hirnfunktionen der Kinder mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie hindern sie, eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistung zu erbringen, die ihrer ansonsten allgemeinen Begabung entspricht. Trotzdem sind diese Kinder fachlich in der Lage, einen begabungsgerechten Schulabschluss zu erreichen, wenn ihre Entwicklungsstörung angemessen schulisch berücksichtigt wird. In der Vergangenheit wurden viele Schüler und Schülerinnen so zum Abitur geführt und bekleiden heute verantwortliche Positionen als Ärzte, Richter, Ingenieure, usw.

    Unzureichenden schulrechtlichen Regelungen und die mangelnde Umsetzung der vorhandenen Regelungen führen nach wie vor dazu, dass viele Kinder und Jugendliche mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie nicht an ihr tatsächliches Leistungsvermögen herangeführt werden.

    Schülerinnen und Schülern mit Legasthenie/LRS bzw. Dyskalkulie soll nach dem Willen der KMK ab der 10. Klasse weder ein Nachteilsausgleich noch Notenschutz gewährt werden. Dies obwohl es Vergleichbares sogar in Prüfungsverordnungen zu Staatsexamen für Juristen gibt und selbst bayerische Verwaltungsgerichte die Nichtberücksichtigung von z. B. Legasthenie als einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz bei Abschlussprüfungen ansehen. Die KMK entzieht sich diesen Erkenntnissen und auch denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Legasthenie und Dyskalkulie als Krankheit anerkannt haben. Für diese Schülerinnen und Schüler schließt die KMK damit die selbst geforderte individuelle Förderung und Forderung ab der 10. Klasse vollständig aus.

    In NRW gibt es bisher keine besondere Rechtsgrundlage für die Gewährung eines Nachteilsausgleiches für Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen im Fach Mathematik durch Dyskalkulie oder bei Legasthenie beeinträchtigt sind.

    Allerdings argumentiert die Landesregierung, dass alle Schulen einen allgemeinen Förderauftrag haben, den sie einlösen müssen. Dies soll unabhängig von der Frage geschehen, ob und welche Lernschwierigkeiten auftreten. Die Förderung von Schülerinnen und Schülern soll aus der Sicht des Ministeriums bisher im Zuge der Umsetzung der zentralen Leitidee des Schulgesetzes (vgl. § 1 Abs. 1. SchulG) realisiert werden.

    Die Landesregierung erklärt es zu ihrem Ziel, Schüler und Schülerinnen durch verschiedene Förder- und Unterstützungsangebote einen erfolgreichen Schulbesuch zu ermöglichen. Die Schulen sind nach der bisherigen Auffassung der Landesregierung aufgefordert, Möglichkeiten schulischer Förderangebote zu schaffen, um Lern- und Leistungsdefizite auch bei Dyskalkulie und Legasthenie zu beheben.

    Durch die neue Empfehlung der KMK aus Dezember 2007 werden für NRW neue Ausgangsbedingungen geschaffen.

    Vor diesen Hintergründen frage ich die Landesregierung:

    1. Was wird sich in NRW nach dieser neuen KMK Empfehlung verändern?

    2. Welche Bedeutung haben für die Landesregierung die Empfehlung der WHO zu Legasthenie und Dyskalkulie?

    3. Durch die Festschreibung, mit der die Maßnahmen zur Differenzierung mit der 10. Klasse enden sollen, wird den betroffenen Jugendlichen bewusst der Zugang zur Sekundarstufe II verwehrt. Wird die Landesregierung die KMK-Empfehlung umsetzen?

    4. Warum wird in NRW der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht zu ungunsten der betroffenen Kinder ausgelegt und ein Nachteilsausgleich bis zum Abitur ermöglicht?

    5. Wie schließt die Landesregierung aus, dass im Bereich der individuellen Förderung schulisches Versagen zum Nachteil der Schüler und Schülerinnen ausgeschlossen wird?

    Antwort der Ministerin für Schule und Weiterbildung vom 5. März 2008 namens der Landesregierung:

    Vorbemerkung

    Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (BVL) hat die Kultusministerkonferenz Ende 2006 aufgefordert, die „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“ vom 04.12.2003 unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung und eines in seinem Auftrag erstellten Rechtsgutachtens von Frau Prof. Dr. Langenfeld zu überarbeiten. Diese Forderung ist von der Kultusministerkonferenz aufgegriffen worden. Nach Auswertung der Rechtsprechung und eingehender Prüfung des Gutachtens durch eine länderoffene Arbeitsgruppe sind die genannten Grundsätze fortgeschrieben worden. Rechtliche Fragestellungen haben dabei im Vordergrund gestanden; die in den Grundsätzen enthaltenen pädagogischen Aussagen sind weitgehend unverändert geblieben.
    In den von der Kultusministerkonferenz am 15.11.2007 fortgeschriebenen Grundsätzen wird bei Beeinträchtigungen des Lesens und Rechtschreibens deutlicher als bisher zwischen Maßnahmen zum Nachteilsausgleich und darüber hinausgehenden Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung differenziert. Hinsichtlich der Gewährung eines Nachteilsausgleichs enthalten die Grundsätze nun auch Aussagen zu den Voraussetzungen, unter denen ein solcher zu gewähren ist. Sie stellen klar, dass Bemerkungen über die Gewährung eines Nachteilsausgleichs nicht im Zeugnis zu vermerken sind. Dies gilt auch für Abschlussprüfungen. Als Nachteilsausgleich kommt insbesondere eine angemessene Verlängerung der Arbeitszeit in Betracht.
    Der Verzicht auf bestimmte Leistungsanforderungen, die den Mitschülerinnen und Mitschülern abverlangt werden, stellt dagegen eine Privilegierung dar, die sich nicht ohne Weiteres aus dem grundgesetzlich vorgegebenen Gleichbehandlungsgebot herleiten lässt. Dies gilt insbesondere für Prüfungen. Deren Aufgabe ist es gerade zu ermitteln, bis zu welchem Grad der Prüfling die Lernziele erreicht hat. Dennoch kann nach den fortgeschriebenen Grundsätzen bei einer besonders schweren Lese-/Rechtschreibschwäche im Einzelfall von allgemeinen Grundsätzen für die Leistungsbewertung abgewichen werden, wenn es hierfür eine landesrechtliche Ermächtigung gibt und wenn dies im Zeugnis vermerkt wird. Dies entspricht der Rechtsauffassung von Frau Prof. Dr. Langenfeld. In ihrem Gutachten heißt es hierzu auf Seite 25:
    „Es entspricht der gängigen Praxis in den Ländern, die Freistellung des legasthenen Schülers von bestimmten Leistungsanforderungen – wie z. B. die Gewährung von Notenschutz – in den Jahrgangs- und Abschlusszeugnissen zu vermerken. Diese Praxis steht mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Einklang. Da es sich bei den genannten Schutzmaßnahmen um eine Maßnahme handelt, die den legasthenen Schüler gegenüber den nicht betroffenen Mitschülern bevorzugt, indem sie ihn von bestimmten schulischen Anforderungen ausnimmt, liegt hierin keine Verletzung der Chancengleichheit des behinderten Schülers.“
    Im Übrigen befassen sich das Rechtsgutachten von Frau Prof. Dr. Langenfeld und die wenigen bekannten Gerichtsentscheidungen ausschließlich mit schweren Lese-/Rechtschreibschwächen. Rechtliche Probleme im Zusammenhang mit Rechenstörungen werden nicht erörtert.

    Zur Frage 1

    Die Landesregierung wird prüfen, ob die bestehenden Regelungen über die Gewährung eines Nachteilsausgleichs für behinderte Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf die von der Kultusministerkonferenz fortgeschriebenen Grundsätze überarbeitet werden müssen.

    Zur Frage 2

    Die Empfehlung der WHO ist der Landesregierung bekannt.

    Zur Frage 3

    Die Empfehlung der Kultusministerkonferenz, bei einer Lese-/Rechtschreibschwäche die Maßnahmen zur Differenzierung und individuellen Förderung bis zum Ende der 10. Klasse abzuschließen, war bereits in den am 14.02.2003 mit Zustimmung der damaligen Landesregierung beschlossenen Grundsätzen enthalten. Mit dieser Empfehlung war schon 2003 nicht bezweckt, Schülerinnen und Schülern mit einer schweren Lese-/Rechtschreibschwäche den Zugang zur Sekundarstufe II zu verwehren. Dies gilt auch heute noch.

    Zur Frage 4

    Die Antwort erfolgt in der Annahme, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht wie in Frage 4 formuliert "zu ungunsten" sondern vielmehr zugunsten der betroffenen Kinder ausgelegt werden soll.
    Bereits zu Frage 1 ist dargelegt worden, dass die bestehenden Regelungen über die Gewährung eines Nachteilausgleichs im Hinblick auf die von der Kultusministerkonferenz fortgeschriebenen Grundsätze überprüft werden.

    Zur Frage 5

    Die Antwort erfolgt in der Annahme, dass die Frage 5 darauf abzielt, welche Anstrengungen die Landesregierung unternimmt (und nicht wie sie "ausschließt"), dass schulisches Versagen zum Nachteil der Schüler und Schülerinnen ausgeschlossen wird.
    Kinder haben vielfältige unterschiedlich ausgeprägte Stärken, Talente und Neigungen. Unser differenziertes Schulsystem begreift diese Vielfalt als Chance und nutzt sie durch eine umfassende und differenzierte Bildungs- und Erziehungsarbeit für das Lernen der Kinder. Unterricht, Erziehung und Schulleben schaffen verbindliche gemeinsame Lern- und Lebensbezüge.
    Diese Zielsetzung wird unterstützt durch den Ausbau von Schulen zu offenen Ganztagsschulen. Bildung, Erziehung, individuelle Förderung und Betreuung werden als pädagogische Leitidee konzeptionell miteinander verzahnt, um Kindern mehr Bildungsqualität und Chancengleichheit zu ermöglichen. Diese Vielfalt ist als Herausforderung zu verstehen, jedes Kind bezogen auf seine individuellen Stärken und Schwächen durch differenzierenden Unterricht und ein anregungsreiches Schulleben nachhaltig zu fördern.