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    21. Oktober 2008

    Pressegespräch zum Abschlussbericht der Enquetekommission II "Chancen für Kinder"

    Pressegespräch zum Abschlussbericht der Enquetekommission II "Chancen für Kinder" Renate Hendricks, Sprecherin der EK II "Chancen für Kinder"
    Es gilt das gesprochene Wort
    Die Enquetekommission "Chancen für Kinder" hat mit seinen Abgeordneten und Sachverständigen 35 Mal getagt, zwei Anhörungen und zwei Expertengespräche durchgeführt sowie neun Gutachten, Studien und Expertisen in Auftrag gegeben, um sich ein umfassendes Bild über die "Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungssystem in Nordrhein-Westfalen" zu machen. Im Vordergrund der mehr als zweijährigen Arbeit stand das Bemühen, vom Kind aus zu denken - also nicht die Institutionen, sondern die Entwicklung der Kinder in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Gleich zu Beginn des Berichtes (S. 27) stellt die Kommission für Nordrhein-Westfalen fest, dass man "mit Blick auf die Erfolgsaussichten im Bildungssystem (…) (sagen kann), dass die Startchancen für Kinder weder gleich noch gerecht verteilt sind". Am Ende der Kommissionsarbeit stand ein 223 Seiten starker Abschlussbericht, der viele richtige und wichtige Empfehlungen enthält. Bevor ich Ihnen sechs - aus Sicht der SPD-Fraktion - zentrale Botschaften des Berichts erläutere, möchte ich Ihnen vorweg die für Sie sicherlich interessante Frage nach der Schulstruktur beantworten: Für das gegenwärtige nordrhein-westfälische Schulsystem gab es in der Enquetekommission keine Mehrheit. Lediglich 7 Mitglieder der Enquete - darunter die Abgeordneten von CDU und FDP - sprachen sich für den Erhalt der bestehenden Schulstruktur aus. 8 Mitglieder hingegen - die Abgeordneten der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/ Die Grünen sowie vier Sachverständige - waren sich darin einig, dass es ein "schulstrukturelles Weiter so" nicht geben darf. Sie haben in unterschiedlichen Sondervoten ihre jeweiligen Positionen dargestellt. Die zentralen Botschaften des Abschlussberichtes "Chancen für Kinder" lauten:
    • 1. Armut beeinträchtigt die Bildungs- und Lebenschancen
    • 2. Familien mit Migrationshintergrund landen vielfach auf dem Abstellgleis
    • 3. Frühe Bildung benötigt mehr Qualität
    • 4. Wir müssen Verantwortungsgemeinschaften für Bildung gründen
    • 5. Das nordrhein-westfälische Schulsystem findet keine Mehrheit in der Enquetekommission, weil es Schülerinnen und Schüler aussortiert statt motiviert.
    • 6. Die Ressourcen für Bildung müssen ausgebaut werden.
    1. Armut beeinträchtigt Bildungs- und Lebenschancen Für einen erheblichen Teil der Familien in NRW bedeutet Elternschaft ein deutlich höheres Armutsrisiko. Dies gilt vor allem für allein Erziehende und für Familien mit drei und mehr Kindern. Sie verfügen über eingeschränkte finanzielle Ressourcen. Das beeinträchtigt die Kinder und Jugendlichen nachhaltig in ihren Entwicklungschancen. Geldknappheit und fehlende Bildungsanreize durch die Eltern führen dazu, dass Kinder aus Familien mit einem erhöhten Armutsrisiko seltener in Vereinen sind, seltener an Kursen teilnehmen oder einem an Institutionen gekoppeltes Hobby (Musik, Tanzen) nachgehen können. Deshalb ist es notwendig, dass Kindertageseinrichtungen, Schulen und andere Akteure diese Defizite kompensieren können. Dazu müssen sie in die Lage versetzt werden und frühe, aufsuchende, niederschwellige sowie nicht diskriminierende Hilfen vorhalten. 2. Familien mit Migrationshintergrund landen vielfach auf dem Abstellgleis Die Abhängigkeit der persönlichen Entwicklung und des Bildungserfolges eines Jugendlichen von seiner sozialen und kulturellen Herkunft bekommt angesichts der kulturellen Vielfalt in Nordrhein-Westfalen eine besondere Brisanz. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bezogen auf die Gleichaltrigen in Nordrhein-Westfalen nimmt kontinuierlich zu. Insgesamt lebten 2005 in Nordrhein-Westfalen rund 4 Mio. Menschen (das sind 22,6 Prozent der Bevölkerung) mit Migrationshintergrund. Diese Gruppe ist im Durchschnitt deutlich jünger als die Bevölkerung der Mehrheitsgesellschaft. Die ökonomische und soziale Lage der Familien mit Migrationshintergrund ist dabei signifikant schlechter als die Situation der Familien ohne Migrationshintergrund. Sie landen in Bezug auf Bildung und soziale Sicherung allzu häufig auf dem Abstellgleis. Angesichts dieser Entwicklung fordert die SPD, sich u. a. für eine groß angelegte Offensive für die Ausbildung und Einstellung von jungen Migrantinnen und Migranten in pädagogischen Berufen einzusetzen. Pädagogische Fachkräfte sind Vorbilder und Identifikationsfiguren für junge Menschen. Gleichzeitig erreichen Fachkräfte mit Migrationshintergrund leichter und kompetenter Eltern mit Migrationshintergrund. Deren Bildungsambitionen für ihre Kinder unterscheiden sich bei ausreichender Beratung nur wenig von denen der Eltern ohne Migrationshintergrund. Allerdings scheitern viele an der Undurchsichtigkeit des Schul- und Ausbildungssystems, am System selbst – oder an mangelnder Beratung. 3. Auf das Wie kommt es an – frühe Bildung benötigt mehr Qualität Der Ausbau des Elementarbereiches ist eine gesellschaftliche und politische Notwendigkeit, die zwar inzwischen allseits erkannt ist, aber ihr Ziel noch lange nicht erreicht hat. Mit dem Ausbau der Betreuungsplätze für unter 3-Jährige bis zum Jahr 2013 (Kinderfördergesetz) wird sich auch die Betreuungsquote der 3-Jährigen in Nordrhein-Westfalen verändern. Im vorschulischen Bereich geht es jedoch nicht nur um den quantitativen Ausbau, sondern auch um die Sicherung von Qualität. Dazu fordert die Enquetekommission insbesondere, dass die Sprachförderung verbessert werden muss. Es ist ein durchgängiges Sprachförderkonzept von der Kita bis in die Sekundarstufe I zu entwickeln und für jedes einzelne Kind individuell umzusetzen. Der Ausbau des Elementarbereiches muss eng mit der Qualifikation der Erzieherinnen, Erzieher und der Kindertagespflegepersonen sowie mit einem angemessenen Betreuungsschlüssel verbunden sein. Kinder benötigen feste und stabile Beziehungen. Der Erfolg der frühen Bildung hängt entscheidend von der Qualität dieser Beziehungen zu den pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab. Die Betreuungsrelation (Fachkraft/Kinder) ist daher ein entscheidender Qualitätsfaktor. 1996 empfahl das Kinderbetreuungsnetzwerk der Europäischen Gemeinschaft abhängig vom Alter der Kinder folgende Fachkräfte-Kinder-Relationen: Bis zu einem Jahr 1:4, im Alter von einem bis zwei Jahren 1:6, bei zwei bis drei Jahren 1:8 und bei drei bis sechs Jahren 1:15. Die Kommission war sich einig, dass die Qualifikation der Erzieherinnen und Erzieher schrittweise zu einer Akademisierung geführt werden muss und dass Tagespflegepersonen ebenfalls eine Qualifikation vorweisen müssen. Dabei sieht die SPD die Notwendigkeit der landeseinheitlichen Qualifizierung nach dem DJI-Curriculum (Deutsches Jugendinstitut). Dies war in der Deutlichkeit in der Kommission allerdings nicht konsensfähig. Der Elementarbereich befindet sich im Umbruch. Bildungsvereinbarungen und Bildungspläne müssen auch für die frühe Bildung ab dem 2. Lebensjahr verbindlich und flächendeckend eingeführt werden. Schrittweise sollten die Elternbeiträge abgeschafft werden. Aus Sicht der SPD ist dies keine optionale Möglichkeit, so wie es im KiBiz angelegt ist, sondern es muss eine generelle Regelung zur Beitragsfreiheit in NRW geben. Das wurde grundsätzlich auch von der Kommission unterstützt. Obwohl Nordrhein-Westfalen sich in einzelnen Bereichen bereits auf den Weg gemacht hat, hat die Enquetekommission gravierende Defizite mit weit reichenden Folgen für die Entwicklung unseres Landes aufgezeigt und konkrete Verbesserungen vorgeschlagen und eingefordert. Dazu gehört eine obligatorische Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe mit Schule, Ganztagsschulen für alle Schulformen, die professionelle Qualifizierung sowie die Aus- und Weiterbildung des gesamten pädagogischen Fachpersonals von der Tagespflegeperson bis hin zum Oberstudiendirektor. 4. Verantwortungsgemeinschaften für Bildung einführen – Biografien ohne Brüche ermöglichen Bildung wird auf regionaler Ebene vermittelt. Damit Lernen im gesamten Lebenslauf erfolgreich ist, sollen Bildungseinrichtungen in einem stimmigen und aufeinander bezogenen Angebot abgestimmt sein. Deshalb sollen flächendeckend und bedarfsgerecht Verantwortungsgemeinschaften für Bildung entstehen. Bildungslandschaften bzw. Bildungsnetzwerke sind zu fördern, um die Koordination und Konsensbildung aller Akteure zu erleichtern. Ein gemeinsames ressortübergreifendes Bildungsmanagement soll in der Zielsetzung erreichen, Biografien ohne Brüche zu ermöglichen. Zu den Aufgaben der Netzwerke gehören ein regelmäßiges Bildungsmonitoring sowie die Erstellung eines regionalen Bildungsberichts. Die Steuerung der Bildungsregionen erfolgt über regionale Bildungskonferenzen. Ein Aspekt der Bildungslandschaften muss auch eine frühere Berufsorientierung der Schüler unter Einbeziehung der regionalen Wirtschaft sein. 5. Fataler Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg - Schulsystem von NRW findet keine Mehrheit in der Enquete-Kommission Fatal ist der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg nicht nur im Hinblick auf die formalen Schulabschlüsse, sondern weil sich nach den Gutachten und Expertisen der Fachleute aus Wissenschaft und Praxis der Bildungserfolg auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen niederschlägt. Durch zahlreiche Studien wird belegt, dass ein niedriger Bildungsabschluss mit geringerem durchschnittlichen Monatseinkommen, mit einer geringeren Chance zur Berufsausbildung, mit einer geringeren Chance, höhere berufliche Positionen zu erreichen sowie mit einem höheren Risiko der Arbeitslosigkeit verbunden ist. Der Einfluss des erreichten Schulabschlusses geht aber noch weiter: Er bestimmt die lebenslange Bildungspraxis und die grundlegende Haltung gegenüber Bildung. Selbst die Gesundheit korreliert mit dem formalen Bildungsabschluss, ebenso politisches Interesse und politische Aktivität. Eine große Herausforderung für die Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen liegt deshalb in der besonders starken Kopplung von Herkunft und Kompetenzerwerb, die auch durch die manglende Durchlässigkeit des Systems verursacht wird. So verließen zwar im Schuljahr 2006/2007 14.427 Schülerinnen und Schüler ihre Schule hin zu einer „niedrigeren“ Schulform, jedoch schafften lediglich 1.593 Kinder und Jugendliche den „Aufstieg“. Damit stellt sich die Durchlässigkeit in der Sekundarstufe I zu 90 Prozent als Abstiegs- und nur zu 10 Prozent als Aufstiegsmobilität dar. Das nordrhein-westfälische Schulsystem bedeutet also Abstieg statt Aufstieg. Wir brauchen insgesamt ein positives, leistungsbereites und wertschätzendes Klima in unserer Bildungseinrichtungen. Damit müssen wir früh anfangen: in den Familien, in den Kindertagesstätten und in den Schulen. Denn gute Bildungspolitik von heute ist die Wirtschaft- und Sozialpolitik von morgen. Die SPD sieht sich in ihrer Forderung, die frühe Aufteilung der Kinder auf unterschiedliche Schulformen abzuschaffen und das Schulsystem hin zu längerem gemeinsamem Lernen umzubauen, durch die Kommission bestätigt. Diese Auffassung wird durch die gemeinsam verabschiedeten Befunde, Analysen und Gutachten in den Berichtsteilen A - C des Enquete-Berichtes untermauert. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Voten zum Thema Schule in den Handlungsempfehlungen wird deutlich, dass es in der Enquete-Kommission insgesamt keine Mehrheit für den Erhalt des bestehenden Schulsystems in NRW gab. 6. Die Ressourcen für Bildung müssen ausgebaut werden Die von der Enquetekommission abgegebenen Handlungsempfehlungen setzen ein gesteigertes Ausgabenniveau voraus. Die SPD-Fraktion spricht sich gemeinsam mit Bündnis 90 / Die Grünen in einem Sondervotum dafür aus, in einem ersten Schritt die durch den demographischen Rückgang freiwerdenden Ressourcen im Bildungshaushalt zu belassen. Im zweiten Schritt soll die Angleichung des Ausgabenniveaus an bundesdurchschnittliche Werte und in einem dritten Schritt an den Durchschnitt der OECD-Länder erreicht werden.