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    09. September 2008

    Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen und Betroffene unterstützen

    Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen und Betroffene unterstützen I. Der Landtag stellt fest: Nach unterschiedlichen Schätzungen sind weltweit zwischen 130 und 150 Millionen Mädchen und Frauen von der weiblichen Genitalverstümmelung betroffen. Jährlich kommen laut einer Studie von UNICEF aus dem Jahr 2005 etwa drei Millionen Betroffene hinzu. Alle 11 Sekunden wird ein Mädchen an seinen Genitalien verstümmelt. Die Anzahl der Frauen mit Genitalverstümmelung (deren äußere Geschlechtsteile ganz oder teilweise entfernt wurden) nimmt in Folge von Migration, Flucht und Globalisierung auch in Deutschland zu. Nach wie vor gibt es allerdings keine genauen Daten, wie viele von Genitalverstümmelung betroffene Mädchen und Frauen in Deutschland leben. Nichtregierungsorganisationen - wie TERRE DES FEMMES e.V. und das Statistische Bundesamt gehen auf der Grundlage von rund 60.000 in Deutschland lebenden Frauen aus Ländern, in denen es eine Tradition der Genitalverstümmelung gibt, von derzeit ca. 30.000 betroffenen oder bedrohten Mädchen und Frauen aus. Nordrhein-Westfalen gehört zu den Bundesländern, in denen die meisten Migrantinnen aus den 28 Verbreitungsstaaten der weiblichen Genitalverstümmelung leben. Auf der Grundlage von Meldedaten aus 2006 lassen sich 5.641 hier lebende Frauen errechnen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind. Deren Töchter sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, illegal in Deutschland oder in den Ferien im Heimatland der Eltern an ihren Genitalien verstümmelt zu werden. Bei Genitalverstümmelungen (Abk. FGM Female Genital Mutilation) handelt es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen. Den Mädchen werden schwerwiegende körperliche, seelische und sexuelle Schäden zugefügt, die zu drastischen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, häufig sogar zum Tod führen können. Die Sterberate bei der schwersten Form der Verstümmelung liegt bei 30 Prozent. Langfristige Komplikationen wie gefährliche Infektionen, Inkontinenz, lebenslange Schmerzen, Depressionen und Psychosen, Probleme bis hin zu lebensgefährlichen Komplikationen für Mutter und Kind bei der Geburt oder auch Unfruchtbarkeit sind nicht selten Folge der Genitalverstümmelung. Im Hinblick auf einen wirksamen Kampf gegen Genitalverstümmelung in Nordrhein-Westfalen begrüßt der Landtag die Aktivitäten des "Runden Tisches NRW gegen Beschneidung von Mädchen" und unterstützt ihn in seiner Zielsetzung mit konkreten Maßnahmen, die medizinische, soziale und rechtliche Situation der betroffenen Frauen in NRW zu verbessern und Mädchen vor Beschneidung zu schützen. Im Kampf gegen Genitalverstümmelung sind umfassende Beratungsangebote für Migrantinnen und ihre Familien von außerordentlicher Bedeutung. Die in NRW bestehenden Beratungsangebote werden in erster Linie vom Verein "Stop mutilation" in Düsseldorf- seit Jahren in ehrenamtlicher Arbeit -, dem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge/PÄZ in Aachen und der Diakonie des evangelischen Stadtkirchenverbands Köln getragen. Das Land NRW ist gefordert, diese mutigen Initiativen finanziell zu fördern und zu sichern. Angehörige medizinischer Berufsgruppen sind auf Grund mangelnder Erfahrung oftmals in der Behandlung der Betroffenen überfordert. Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal werden in vielen Fällen erstmals mit weiblicher Genitalverstümmelung konfrontiert, wenn Patientinnen zur Behandlung in die Praxis kommen. Unsensible Reaktionen, inadäquate Diagnostik und Therapie können die Folge sein. Daher ist dringend gefordert, das Thema Genitalverstümmelung und seine rechtlichen Aspekte fest in die Aus- und Fortbildung der Fachkräfte des Gesundheitswesens zu integrieren. Der Landtag begrüßt, dass die Bundesärztekammer im Jahr 2005 Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung beschlossen hat und dass der Deutsche Ärztetag 2006 die medizinischen Fakultäten dazu aufgefordert hat, die Problematik der FGM in die Ausbildung der Studierenden zu integrieren. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Krankenkassen nicht in allen Fällen bereit sind, die Kosten für notwendige Operationen nach einer Genitalverstümmelung zu übernehmen. Um Mädchen wirksam vor Genitalverstümmelung schützen zu können, ist deutlich mehr Aufklärung über die möglichen Folgen dieser Praxis notwendig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich betroffene Mädchen nur schwer offenbaren. Deshalb sind die mit den Betroffenen oder potentiell Bedrohten arbeitenden Professionen (wie Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen Mitarbeiterinnen der Jugendämter und deren männliche Kollegen) besonders gefordert und sollten hinreichend im Hinblick auf die Thematik sensibilisiert werden. Ebenso müssen Strafverfolgungsbehörden und Polizei für das Thema sensibilisiert und geschult werden. Migrantinnen, Migranten und ihre Familien sollten möglichst unverzüglich nach ihrer Einreise nach Deutschland über die Folgen weiblicher Genitalverstümmelung, die Rechtslage in Deutschland und Anlaufstellen informiert werden. Der Landtag begrüßt den Beschluss des Bundestages vom Juni 2008, Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen wirksam bekämpfen zu wollen. Allerdings lässt die Beschlussfassung des Bundestages zentrale Forderungen von Betroffenen, Expertinnen und Menschenrechtsorganisationen ungeachtet. Die genitale Verstümmelung von Frauen wird seit der Vierten Weltkonferenz der Vereinten Nationen in Peking 1995 als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung geächtet. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Genitalverstümmelung – abhängig von der Schwere – als einfache (§ 223 StGB), gefährliche (§ 224 StGB) oder schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) strafbar. Um der Schwere und dem Unrechtscharakter der Genitalverstümmelung gerecht zu werden und um ein eindeutiges Signal gegen diese menschenrechtsverletzende und frauenverachtende Praxis zu setzen, muss Genitalverstümmelung grundsätzlich in den Straftatbestand der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) aufgenommen werden. Des Weiteren bleibt der Beschluss des Bundestages hinsichtlich seiner Forderung nach Beratungs- und Unterstützungsleistungen weit hinter den aktuellen Bedarfen zurück. II. Der Landtag beschließt: Der Landtag Nordrhein-Westfalen verurteilt Genitalverstümmelung als schwere Form der Menschenrechtsverletzung und fordert die Landesregierung dazu auf:
    • die Bundesregierung bei ihren Anstrengungen bei der Bekämpfung der Genitalverstümmelung aktiv zu unterstützen;
    • sich darüber hinaus auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass Genitalverstümmelung grundsätzlich als schwere Körperverletzung im Sinne des § 226 Strafgesetzbuches (StGB) definiert wird;
    • sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass drohende Genitalverstümmelung als Asylgrund generelle Anerkennung findet;
    • sich darüber hinaus für ein Abschiebeverbot von Mädchen aus der Risikogruppe einzusetzen;
    • bereits bestehende Beratungsangebote in NRW ausreichend finanziell zu unterstützten und weitere Bedarfe zu ermitteln und ggf. zu finanzieren;
    • Vereine und Initiativen, - wie den Runden Tisch auf Landesebene und bestehende kommunale Runde Tische - die zum Thema arbeiten finanziell zu fördern und zu unterstützen;
    • die Initiierung weiterer kommunaler Runder Tische zu unterstützen;
    • eine Verbreitung von Informationsmaterialien, z.B. der Materialien von TERRE DES FEMMES, in NRW - insbesondere an Schulen - zu fördern;
    • sich in Zusammenarbeit mit Kulturvereinen für eine Sensibilisierung afrikanischer Frauen und Männer aus den Verbreitungsländern einzusetzen;
    • sich für die Sensibilisierung der von der Thematik betroffenen Professionen – insbesondere Erzieherinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Mitarbeiterinnen der Jugendämter, Ärztinnen, Pflegepersonal und Hebammen, Mitarbeiterinnen der Polizei und Justiz und deren männliche Kollegen – einzusetzen
    • sich insbesondere für die Sensibilisierung von Erzieherinnen und Erziehern im Rahmen der interkulturellen Fortbildungsangebote für das Thema einzusetzen;
    • Informationsmaterialien für die Familienzentren bereitzustellen;
    • sich dafür einzusetzen, dass Informationsgespräche, Aufklärungsmaterialien und Hinweise auf die Strafbarkeit von FGM als festen Bestandteil in die Integrationskurse aufgenommen werden ;
    • sich dafür einzusetzen, dass die Problematik des Genitalverstümmelns in die medizinische Aus- bzw. Fortbildung integriert wird;
    • sich dafür einzusetzen, dass die Kostenübernahme bei notwendigen Operationen nach FGM - auch für Bezieherinnen von Leistungen nach SGB und AsylbLG - sichergestellt ist
    • dem Landtag über die getroffenen Maßnahmen zu berichten.
    Fraktion der SPD Hannelore Kraft Carina Gödecke Britta Altenkamp Gerda Kieninger Stefanie Wiegand und Fraktion Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sylvia Löhrmann Johannes Remmel Barbara Steffens und Fraktion