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    10. Oktober 2007

    "Schwerpunkte der SPD-Fraktion in der Enquetekommission 'Chancen für Kinder'"

    Sprechzettel von Renate Hendricks, Sprecherin der SPD-Fraktion für die Enquetekommission II, zum Pressefrühstück
    "Schwerpunkte der SPD-Fraktion in der Enquetekommission 'Chancen für Kinder' " am 10.10.2007 im Düsseldorfer Landtag

    Guten Morgen meine Damen und Herren,

    von Enquetekommissionen hört die Öffentlichkeit in aller Regel drei Mal: Zum ersten Mal, wenn sie von einer Fraktion beantragt und vom Landtag verabschiedet wird. Zum zweiten Mal, wenn sie sich konstituiert und damit ihre Mitglieder feststehen. Und zum dritten Mal, wenn sie - meist nach zwei bis drei Jahren - ihren Abschlussbericht vorlegt. Enquetekommissionen tagen nicht öffentlich, um - bei manchen Fraktionen mehr, bei anderen weniger - unabhängig vom aktuellen politischen Tagesgeschehen arbeiten und diskutieren zu können. Da macht die EK II "Chancen für Kinder", die im November 2005 von unserer Fraktion beantragt wurde, keine Ausnahme. Aber selbstverständlich ist die Enquetekommission auch kein Geheimbund. Ihr Arbeitsprogramm, ihre Tagesordnungen sowie die von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten oder Studien werden im Internet öffentlich präsentiert. Ich möchte deshalb heute die bereits öffentlichen Gutachten zum Anlass nehmen, Ihnen die damit verbundenen Schwerpunkte der SPD-Fraktion in der Enquetekommission "Chancen für Kinder" zu erläutern.

    Lassen Sie mich jedoch vorab noch einmal kurz die wichtigsten Ziele und Aufgaben der Enquetekommission aus Sicht der SPD-Fraktion benennen. Die EK II hat laut Antrag die Aufgabe die Rahmenbedingungen für Erziehung, Bildung und Betreuung in Nordrhein-Westfalen kritisch zu hinterfragen und konstruktiv neu zu denken. Ihr Ziel ist es, zukunftsweisende Modelle zu verlässlichen, bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten für alle Kinder von Geburt an bis zum Ende der Schulzeit zu entwickeln. Dabei wollen wir die bisherigen Strukturen der Finanzierung von Einrichtungen ebenso wie die staatlichen Transferleistungen auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Denn was einmal das Richtige war, muss angesichts der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr das Optimale sein. Es sollen weiterhin neue Ansätze der Steuerung von Bildungsausgaben erarbeitet werden. Nach der Föderalismusreform ist Bildung mehr als zuvor überwiegend Ländersache Jedes Land entscheidet wie viel es an welcher Stelle für Bildung ausgeben will. NRW gibt deutlich weniger Geld für Bildung aus als andere Bundesländer wie zum Beispiel Baden-Württemberg und Bayern.

    Ein gutes Kita-System und Schulsystem bieten langfristige Vorteile: So z. B. weniger Schulabbrecher und damit auf lange Sicht weniger Sozialleistungsbezieher. Ein gutes Bildungs- und Betreuungssystem ist also von massivem gesamtstaatlichen Interesse. Von den Effekten, die damit erzielt werden, profitiert auch der Bund in erheblichem Umfang. Wenn aber der Bund erhebliche Vorteile etwa von einer guten frühkindlichen Förderung hat, dann sollte auch über die Finanzierungsquellen ideologiefrei neu nachgedacht werden können. Insofern sind die Bemühungen von Frau von der Leyen in der großen Koalition ausdrücklich zu loben. Auch wenn sie mit ihrer Politik Produktpiraterie betreibt. Abzuwarten ist allerdings, wie das Land NRW die zusätzlichen Gelder aus Berlin zügig für den Ausbau der unter dreijährigen Betreuung und Bildung einsetzt.

    Internationale Studien belegen, dass unser Bildungswesen zu viele Verlierer produziert, dass der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Nordrhein-Westfalen besonders hoch ist und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund niedrigere Bildungsabschlüsse als Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund erreichen. Aus Sicht der SPD-Fraktion muss die Enquetekommission Handlungsempfehlungen an die Politik geben, wie in Zukunft ein Bildungssystem gestaltet werden soll, dass weniger Verlierer zurücklässt. Wir in NRW müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Bildung, Erziehung und Betreuung vom Anfang an zusammen gedacht und praktiziert werden. Die Enquetekommission hat sich zum Ziel gesetzt, hierzu Vorschläge zu machen. Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsmodelle müssen sich zukünftig mehr an den Erfordernissen der Alters- und Entwicklungsstufen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Dazu müssen die Bildungsinstitutionen in unserem Land die Kinder und Jugendlichen erheblich stärker als bisher in individueller Weise fördern. Dies erfordert ein Umdenken in den allen Bildungseinrichtungen. Weg von der Einheitspädagogik hin zur Individualpädagogik.

    Einen wichtigen Schwerpunkt sehen wir im Bereich der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung. Es ist mittlerweile wohl unbestritten, dass bereits in der frühsten Kindheit Bildung und Betreuung zusammen gedacht werden müssen. Besonders vor dem Hintergrund der Einführung des Elterngeldes und dem damit in Zukunft verbundenen größeren Bedarf an öffentlicher Betreuung von Kindern unter drei Jahren, müssen neue Betreuungs- und Bildungskonzepte entwickelt werden. Dazu liegen der Enquetekommission bereits Gutachten vor.

    Prof. Dr. Lieselotte Ahnert, Lehrstuhlinhaberin für Entwicklungsförderung und Diagnostik an der Universität Köln, hat im Auftrag der Enquetekommission entwicklungspsychologische Aspekte der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kleinkindern untersucht. Ihre Expertise - die Sie im Internet des Landtags einsehen können und die auch der Pressmappe beiliegt - liefert wichtige Hinweise für Handlungsempfehlungen an die Politik. Grundsätzlich stellt Prof. Dr. Ahnert sinngemäß folgendes fest:

    - Eltern, die ihre Kleinstkinder - gemeint sind Kinder unter drei Jahren - in eine öffentliche Betreuung geben, haben keine schlechtere Eltern-Kind-Beziehung als solche, die ihre Kleinstkinder ausschließlich in der Familie betreuen, solange ein zeitlich und emotional ausgewogenes Verhältnis zwischen Familien- und öffentlicher Betreuung besteht. Das Verhalten von Eltern mit so genannten Krippenkindern unterschied sich in den von Prof. Dr. Ahnert zitierten Studien von den anderen Eltern allerdings insofern, als dass sie in der Regel während der verbleibenden familiären Betreuungszeit ihren Kindern intensivere Aufmerksamkeit, Zuwendung und Stimulation boten. Prinzipiell defizitäre Betreuungserfahrungen bei Krippenkindern sind nicht nachweisbar. (s. Ahnert, S.15 f.)

    Oder anders formuliert: Die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in öffentlichen Einrichtungen hat weder negative Auswirkungen auf ihre psychologische Entwicklung noch auf die Eltern-Kind-Beziehung, sofern die Rahmenbedingungen in den Familien und den Einrichtungen stimmen.

    - Im Rahmen öffentlicher Betreuung bieten sich für Kinder Möglichkeiten, Fertigkeiten für den sozialen Austausch, Dialogstrukturen, Regeln und Kompromisse zu entwickeln. "Die Kleinkinder nehmen an der Alltagswirklichkeit anderer Kinder teil, leiten sich gegenseitig an, tauschen Erfahrungen aus und lernen von einander." (Ahnert, S. 17)

    - Widersprüchliche wissenschaftliche Ergebnisse hat es in den vergangenen Jahren zur mentalen und sprachlichen Entwicklung von Kindern mit öffentlichen Betreuungserfahrungen gegeben. "Dies schien sowohl von der Qualität der außerfamiliären wie auch familiären Betreuung des Kindes abzuhängen. Prof. Dr. Ahnert macht allerdings deutlich, dass zunehmend mehr internationale Studien belegen, "dass Kinder in ihrer kognitiven und sprachlichen Entwicklung der ersten 1 ½ Jahre von einer ausschließlichen Familienbetreuung oder Tagespflege profitieren, wenn man ihre Entwicklung mit derjenigen vergleicht, die Kinder aus institutioneller Betreuung guter Qualität aufweisen (NICHD Early Child Care Network, 1998, 2000)." (Ahnert, S.18 f.)

    - Eine gute Erzieher/innen-Ausbildung und ein niedriger Betreuungsschlüssel - so Prof. Dr. Ahnert - wirken sich nicht nur auf diese Bereiche fördernd aus, sondern auch auf die sozial-emotionale Entwicklung von Kleinkindern. Sie stellt fest: "Um allen Kinder eine optimale Entwicklung garantieren zu können, muss deshalb öffentliche Kinderbetreuung in höchster Qualität angeboten werden." (Ahnert, S. 19)

    - "Langfristig wird man nicht umhin können, international gängige Betreuungsschlüssel einzuführen, die zwischen 1:3 und 1:4 liegen, wie dies von einer Reihe amerikanischer Gesellschaften und vom European Commission Network on Childcare verlangt wird und in einigen europäischen Ländern (z.B. Schweden) auch bereits realisiert wurde." (Ahnert, S. 21)

    - Prof. Dr. Ahnert empfiehlt, "den Erziehungsauftrag für Unter-Dreijährige zu präzisieren und konkrete Vorschläge für eine gezielte Bildungsförderung in diesem Alter zu unterbreiten." (Ahnert, S.20)

    - Sie fordert außerdem eine Intensivierung der Forschung über die frühe Kindheit, "die nach wie vor auch international noch in den Kinderschuhen steckt". (ebd.)

    Aus Sicht der SPD-Fraktion liefert diese Expertise wichtige Ergebnisse und überzeugende Schlussfolgerungen. Vier Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung:

    1. Es reicht nicht aus, nur die Kapazitäten in der institutionellen Betreuung auszuweiten, also mehr Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren zu schaffen. Wir brauchen bereits schon morgen Erzieherinnen und Erzieher, die eine für diese Altersgruppe spezifische pädagogische Ausbildung mitbringen. Dies erfordert auch Fort- und Weiterbildungsangebote im Bereich der frühen Kindheit.

    2. Dafür wird es notwendig sein, die Forschung im Bereich der frühkindlichen Bildung zu intensivieren.

    3. Wir müssen die Anforderungen an frühkindliche Bildung und die damit verbundenen Ziele konkret benennen.

    4. Für die emotionale, geistige und kognitive Entwicklung von Kindern unter drei Jahren ist eine intensive Betreuung und Beziehung zur Erzieherin oder zum Erzieher von entscheidender Bedeutung. Sie brauchen kleine Gruppen, deren Betreuungsschlüssel sich am internationalen Standard orientiert.

    Die SPD-Fraktion wird sich in der Kommission dafür einsetzen, dass die Ergebnisse der Expertise in die Handlungsempfehlungen der Enquetekommission "Chancen für Kinder" einfließen. Die nordrhein-westfälische Realität ist derzeit meilenweit von den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den sich daraus ableitenden Erfordernissen entfernt., Der Gesetzentwurf des umstrittenen Kinderbildungsgesetzes (Kibiz) macht dies überdeutlich.