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Offener Brief: Neue Entwicklungen zur Gesamtschule

Schule und Bildung

Sehr geehrter Herr Stahl,

trotz der anfänglichen Widerstände der Bonner CDU wird zum kommenden Schuljahr in Bonn eine weitere Gesamtschule ihren Betrieb aufnehmen. Zu Ihrem eigenen großen Erstaunen (Rede im Landtag in der Gesamtschuldebatte) hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Eltern ihre Kinder aus allen Begabungsspektren auf Gesamtschulen schicken wollen.

Dies ist ganz aktuell bei der Umfrage der Stadt St. Augustin noch einmal sehr deutlich bestätigt worden. Mit 81 Prozent Rücklauf der Fragebögen weisen die Ergebnisse eine beachtliche Repräsentativität auf. Und die Ergebnisse sind eindrucksvoll: 63,5 Prozent der Eltern würden für ihre Kinder eine Gesamtschule bevorzugen. Dieser Wunsch streut über die Grundschulen in St. Augustin zwischen 50 und 70 Prozent. Damit wird deutlich, dass das Schulangebot der Stadt St. Augustin den Wünschen der Eltern nicht mehr entspricht.

Der Wunsch nach einer Gesamtschule ist sogar so groß, dass die Eltern bereit wären, auf ein Ganztagsangebot zu verzichten. Das heißt: Der Wunsch, Bildungsgang und Bildungsoptionen der Schüler länger offen zu halten und länger gemeinsam zu lernen, ist größer als der Wunsch nach einem Ganztagangebot. Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis, das das Credo insbesondere der CDU in Nordrhein-Westfalen nach dem vorrangigen Wunsch nach einem Ganztagsangebot erschüttert.

Auch wenn die Aussagen naturgemäß nur für die Stadt St. Augustin gelten, kann man sicher berechtigt davon ausgehen, dass die Tendenzen mehr oder weniger auch für das ganze Land zutreffen.

Die Festlegung der CDU auf das dreigliedrige Schulsystem findet damit immer weniger Akzeptanz in der Bevölkerung. Oder spitzer formuliert: Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind bei den Eltern und Lehrern angekommen, werden aber von der CDU mit Hartnäckigkeit ignoriert. Es scheint daher dringend geboten, dass die CDU in NRW ihre Positionen zur Bildungspolitik überdenkt. Da Sie als Fraktionsvorsitzender hierbei eine gewichtige Rolle spielen, hängt die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems maßgeblich von Ihren Entscheidungen und Impulsen in die Partei ab.

Die Ergebnisse der Umfrage der Stadt St. Augustin stellen mit Sicherheit keine singuläre Situation dar. Die Ergebnisse werden weit über St. Augustin hinaus von Bedeutung für die zukünftige Schulentwicklung in NRW sein. Sie machen zudem deutlich, dass die Kommunen mehr Mitspracherechte bei der Gestaltung des Schulangebotes vor Ort erhalten müssen als das Schulgesetz von NRW es derzeit ermöglicht. Und dass dabei insbesondere die Wünsche der Eltern in die Schulentwicklungsplanung ernsthaft mit einbezogen werden müssen.

Dramatisch wird Politik, wenn die strukturellen Bildungsvoraussetzungen, die sie schafft, den Kindern und Jugendlichen zum klaren Nachteil gereichen. Ein weiteres Ergebnis der Umfrage von St. Augustin ist nun, dass sich in der Sekundarstufe nur noch 22 Prozent der Eltern eine Halbtagsschule wünschen. Für nur 18 Prozent spielt der Ganztag keine Rolle. Die „klassische Halbtagschule rückt aus dem Blickfeld“, schreiben die Verfasser der Studie.

Eine weitere Entscheidung Ihrer Fraktion und Ihrer Regierung ist es aber, den neu gegründeten Gesamtschulen die Ganztagszuschläge zu verweigern. So soll auch die vierte Gesamtschule in Bonn keinen Ganztagszuschlag erhalten. Dass diese Entscheidung nicht pädagogisch zu begründen ist, wissen Sie - über die einmütige Meinung der Experten hinaus - auch aus eigener Erfahrung. Sie ist ausschließlich aus ideologischer Sicht zu verstehen und absolut nicht kindorientiert. Diesen Vorwurf sollte sich Politik nicht machen lassen dürfen.

Der Oberbürgermeisterkandidat der CDU in Bonn, Christian Dürig, hat sich hierzu in einem Artikel des Bonner Generalanzeigers vom 6. März dieses Jahres geäußert. Unter dem Titel „Der vierten Gesamtschule steht nichts mehr im Wege“ heißt es: “Christian Dürig, OB-Kandidat der CDU, will sich dafür einsetzen, dass die vierte Gesamtschule anders als vom Land vorgesehen auf jeden Fall als Ganztagsschule eingerichtet wird.“

Ich teile diese Einschätzung über die Wichtigkeit der Ganztagsform für die Gesamtschule in Bonn und freue mich sehr darüber, dass Herr Dürig hier mehr Einsicht zeigt als die Landes-CDU und den berechtigten Wunsch der Eltern nach einer solchen Ganztagsschule unterstützt.

Deshalb würde es mich sehr interessieren, noch rechtzeitig vor der Kommunalwahl zu erfahren, was bisher mit welchem Erfolg unternommen wurde, um den Ganztag an der vierten Gesamtschule in Bonn Realität werden zu lassen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Land gehe ich davon aus, dass Ihre Einflussmöglichkeiten hier hilfreich sein könnten und eine Neupositionierung auch vor dem Hintergrund der Umfrage in St. Augustin angezeigt wäre.

Insofern würde ich gerne von Ihnen erfahren, was Sie für die Bonner Kinder und Eltern unternehmen wollen, damit die Gesamtschule zum kommenden Schuljahr mit einem Ganztagzuschlag starten kann oder diesen zumindest für das folgende Jahr in Aussicht gestellt bekommt.

Mit freundlichen Grüßen

Renate Hendricks

Offener Brief: Neue Entwicklung der Gesamtschule

Auswertung: St. Augustin Elternbefragung 2009