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Rede: Abschlussbericht der Enquetekommission II

Allgemein

Rede von Renate Hendricks, Sprecherin der SPD Fraktion in der Enquete-Kommission "Chancen für Kinder", im Plenum am 24.10.2008 zum
Abschlussbericht der Enquetekommission II

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen und Kolleginnen!

Wir diskutieren heute über das Ergebnis der Enquete-Kommission „Chancen für Kinder“. Eines der zentralen Themen für unser Land. Die Kommission hat sich viel Mühe gegeben. Sechs erfahrene Professoren und neun gestandene Abgeordnete haben sich zweieinhalb Jahre intensiv dem Thema gewidmet. Und ich sage Ihnen: Es hat sich gelohnt, das Ergebnis ist beachtlich und Richtung weisend.

Die Ergebnisse sind nicht neu. Das war weder beabsichtigt noch zu erwarten. Aber sie fassen den aktuellen Stand der Erkenntnisse ziel- und handlungsorientiert zusammen. Sie sind so markant, dass einige der Mitwirkenden offenbar über das Ergebnis ein wenig erstaunt und anscheinend gar nicht erfreut sind und die Ergebnisse lieber totschweigen möchten. Ich bin guten Mutes, dass das nicht gelingt, und hoffe, dass der Enquete-Bericht für die Weiterentwicklung des Bildungswesens in NRW weit reichende Konsequenzen haben wird. Der Enquete-Bericht ist deutlich mehr als die Summe der Handlungsempfehlungen. Er dokumentiert empirische Bildungsforschung, gibt die Meinungen von Experten und Wissenschaftlern wieder und ist vor allem ein gemeinsames Dokument aller Mitglieder über die Notwendigkeiten von Veränderungen und Maßnahmen. Daher lohnt es sich, den gesamten Bericht zu lesen, weil darin klar wird, dass den 12 Handlungsfeldern mit ihren Empfehlungen klare Beschreibungen und Positionierungen vorausgegangen sind. Ziel der Enquetekommission war es, vom Kind aus zu denken, also nicht die Institutionen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Entwicklung und die Förderung der Potentiale von Kindern und Jugendlichen. Die Kommission war sich einig, dass jedes Kind Stärken hat, diese erkannt und gefördert werden müssen, jedes Kind mitgenommen und die bestehende Chancenungleichheit im Bildungssystem soweit möglich kompensiert werden muss Die Antworten, die speziell im Schulbereich - gestützt auf Gutachten, Expertisen, empirische Daten - gefunden wurden, fallen trotzdem deutlich unterschiedlich aus. Es sei dem geneigten Leser des Berichtes überlassen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Festzuhalten ist, dass es für die Schulpolitik der CDU/FDP Koalition in der Kommission keine Mehrheit gab. 8 von 15 Kommissionsmitgliedern haben sich für eine Veränderung des Schulsystems, bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung gestützt auf empirische Daten, ausgesprochen. 7 Kommissionsmitglieder sprechen sich für den unveränderten Erhalt des bestehenden Systems mit gleichzeitigen Qualitätsmaßnahmen aus. Meine Damen und Herren, das Bildungssystem in NRW wird nach wie vor durch soziale Selektivität und eine Abwärtsmobilität weg von höheren Schulformen zu niedrigeren bestimmt. Auf neun Absteiger kommt ein Aufsteiger. Ebenfalls ist die Sitzenbleiberquote immer noch viel zu hoch. Insbesondere Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien gelingt viel zu selten ein Aufstieg im gegliederten Schulsystem, ganz zu schwiegen davon, dass die Chancen, auf eine höherwertige Schulform zu kommen, 2,6fach geringer sind als bei Kindern aus besser gestellten Familien. Insbesondere Armut und Migrationshintergrund verringern die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen. Aber 800 000 Kinder und Jugendliche leben in NRW unter der Armutsgrenze und rund 30 Prozent aller Schüler und Schülerinnen haben einen Migrationshintergrund. Daher sind diese Abhängigkeiten in unserem Land von entscheidender Bedeutung. Diese Zusammenhänge wurden von der Enquete-Kommission in völliger Einmütigkeit gesehen. So heißt es in Teil A: „Mit Blick auf die Erfolgsaussichten im Bildungssystem (…) kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Startchancen für Kinder weder gleich hoch noch gleich verteilt sind“. Auch zu den Grundschulempfehlungen, die sie, meine Damen und Herren für NRW verbindlich gemacht haben, gibt es im Bericht klare Aussagen der Wissenschaft. So z.B. in Teil A 1.2.3: „Im Rahmen von größeren Leistungsstudien der letzten Jahre wurde immer wieder gezeigt, dass Grundschulempfehlungen nur eingeschränkt die Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen widerspiegeln“. Die Kommission stellt in Teil A 2.2.2 ebenfalls fest, dass Kinder mit gleichen Leistungen und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten je nach Migrationsgeschichte unterschiedliche Schullaufbahnempfehlungen erhalten. Einmal getroffene Schullaufbahnentscheidungen werden – auch wenn sie falsch sind – nur in seltenen Fällen im Laufe der Schullaufbahn revidiert, da sich das nordrheinwestfälische Schulsystem durch eine geringe Durchlässigkeit auszeichnet. Wer vom Kind aus denkt, muss deshalb auch die Strukturen ins Auge fassen. Es reicht nicht, die individuelle Förderung allein zum Credo seines Handelns zu machen. Dazu wird der Gutachter Mack in Teil B 3.1.4 zitiert: „Um der doppelten Benachteiligung entgegenzuwirken, sind mehrere Maßnahmen erforderlich: So ist einerseits eine bessere individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen in und außerhalb der Schule notwendig (…). Anderseits ändern diese Maßnahmen kaum etwas, solange schulstrukturelle Aspekte von Fragen von Bildungsbenachteiligung ausgeblendet werden. Der enge Zusammenhang von sozialer Lage und Bildungserfolg in Deutschland kann ohne Reformen der Strukturen der Schule nicht überwunden werden.“ Und dies meine Damen und Herren von den Regierungsbänken wissen Sie. Auch wenn ihr gemeinsames Votum in der Enquete ein Festhalten an bestehenden Strukturen dokumentiert. Aber Ihre Überzeugung ist Ihnen längst abhanden gekommen. Sie wissen, dass sich die Landschaft ändert, und dass die Erkenntnisse, die wir in der Enquete zusammentragen haben, bei den Menschen bekannt werden und die Bürger und Bürgerinnen in wachsendem Maße Reformen einfordern oder sie selber umsetzen. Die politische Diskussion in der FDP macht das schon deutlich und auch die CDU wird in der nächsten Legislaturperiode an den Erkenntnissen des Enqueteberichtes nicht mehr vorbeikommen. Tragisch ist nur, dass sie derzeit zum Schaden der Kinder und Jugendlichen Ihre ideologischen Scheuklappen anbehalten. Ein strukturelles „Weiter so“ ist nicht zukunftsfähig. Es geht aber um die Zukunft unserer Kinder, unseres Landes und unserer Gesellschaft. Wer Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt stellt, muss eben alle strukturellen Hindernisse beseitigen, die für die junge Generation hinderlich sind. Und diese bestehen u. a. in anregungsarmen Entwicklungsmilieus, die sich durch die Stärkung der Hauptschule nicht beseitigen lassen. Hoffnungsfroh stimmt mich, dass jenseits der im Fokus der öffentlichen Diskussion stehenden Handlungsempfehlungen der Bericht Gemeinsamkeiten formuliert, die weit reichende Konsequenzen für das Bildungssystem haben. So formulierte die die Kommission übereinstimmend fünf Bausteine zur Verbesserung des Erziehungs-, Betreuungs-, und Bildungssystems (S. 150), die ich hier gekürzt wiedergebe:
  • 1. Eine hohe Qualität in allen Bereichen des Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungssystems soll die Bildungschancen aller Kinder zur Entfaltung bringen. Ungünstige Lernmilieus müssen vermieden, die kindspezifische Förderung ausgebaut werden. Die Stärkung aller Personen, die an der kindlichen Entwicklung teilhaben, sowie eine kontinuierliche Personalentwicklung dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden.
  • 2. Zeitlich flexible Übergänge sollen der Tatsache Rechnung tragen, dass Kinder sich individuell und damit unterschiedlich schnell entwickeln.
  • 3. Durch eine Modularisierung der Leistungserbringung und –anerkennung soll es künftig möglich sein, modulbezogene Zertifikate in unterschiedlichen Institutionen des Bildungssystems zu erwerben und in andere einzubringen. So können Teilleistungen anerkannt werden.
  • 4. Um die Folgen der demografischen Entwicklung für die Bildungssysteme auffangen und für Kinder und Jugendliche optimieren zu können, sollen die Kommunen stärkere Gestaltungsspielräume für passgenaue Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsangebote erhalten.
  • 5. Eine weitgehende Integration aller Kinder und Jugendlicher - auch solcher mit Behinderungen -in das allgemeine Bildungssystem wird angestrebt.
„Keine ‚Chancen für Kinder’ in NRW“, titelte das Domradio am Dienstag, weil es keine Einigung im Bereich des Schulsystems gab. Individuelle Förderung benötigt eben Zeit, unterschiedlich viel Zeit. CDU und FDP brauchen halt mehr Zeit, das Ziel zu erreichen. Schade nur, dass wir diese Zeit eigentlich nicht haben. Aber vor diesem Dilemma stehen Pädagogen häufiger.